Die Wut kommt angerollt. Erst kribbelt es nur leicht, dann wird es heiss. Alles geht ganz schnell. Im Magen entsteht ein zentnerschwerer Stein. Tränen steigen in die Augen, die Sicht wird verschwommen. Muskeln spannen sich an. Die Gefühle überschlagen sich, erst Wut, dann Ohnmacht, Hilflosigkeit und Scham. Unverstanden. Alleingelassen. Ungeliebt. Im Gefühlschaos werden die Worte unverständlich, es kommt nur noch ein Wimmern, Nuscheln, zwischendurch geschriene Fetzen. Und überall diese Unruhe. Dieses Gefühl von weglaufen und komplett ausrasten wollen. Etwas werfen, schlagen, beißen, kratzen. Schmerz spüren. Das Ventil öffnen. Loslassen. Rauslassen. Alles egal. Und dann kommt die Leere.
Diese Gefühle sind nicht meine eigenen. Die Wut ist nicht meine eigene. Und doch erlebe ich sie regelmäßig. Wie geht man damit um, wenn ein Angehöriger Hilfe braucht? Wie soll ich mich verhalten? Wie kontrolliere ich meine eigenen Gefühle? Wie kann ich helfen? Und wo ist meine Grenze?
Er durchlebt gerade eine schwierige Zeit. Er weiß noch nicht wer er ist, was er will und was sich da entwickeln wird. In welche Richtung das geht. Er weiß nicht mal was genau da eigentlich passiert, was er jeden Tag sieht. Er übernimmt Verantwortung, die zu groß für ihn ist. Denn er ist noch zu klein. Aber älter als sein Bruder. Er ist auch nur ein Angehöriger, der miterlebt. Und dadurch in die gleiche Situation kommt wie ich selbst. Der Unterschied ist: er ist 9 Jahre alt.
Wir alle haben Menschen um uns, deren Kämpfe wir miterleben. Und gerade für mich, die in diesem Fachbereich so einiges an Ideen und Methoden zur Verfügung hätte, kann nicht helfen wie sonst. Denn ich bin zu nah dran. Ich gehöre zu seinem System. Ich bin hier kein Coach, ich bin in erster Linie Bezugsperson.
Bei ihm zeigen sich Züge von Autoaggression, sowie erste Anzeichen von Depression. Überforderung und fehlender Bezug zu sich selbst. Also spreche ich mit Freunden. Mit Kollegen vom Fach. Ich lese Fachliteratur. Ich suche mir Hilfe und arbeite mit wingwave, um meine Gefühle dazu und in der Situation selbst unter Kontrolle zu bringen. Ich möchte nicht falsch reagieren. Es für ihn noch schlimmer machen. Ich denke oft an den Satz „hurt people hurt people“, denn dieser führt mir vor Augen, dass alles, was sich wie ein persönlicher Angriff gegen mich anfühlt, keiner ist. Er hat Schmerzen, er ist hilflos und ich bin gerade da, um es auszuhalten.
Einen Anfang bieten Beratungsstellen. Diese helfen, wenn Angehörige nicht wissen was sie tun können, wie sich sich verhalten sollen und was es für Möglichkeiten gibt. Als Angehöriger ist es wichtig hinzusehen und zuzuhören. Wahrnehmen, Präsenz zeigen und vor allem nicht denken, dass sich das von alleine gibt. Denn das tut es nicht. Wegsehen ist keine Option.
Ein weiterer guter Punkt ist ein Ventil zu schaffen, dass nicht zerstört, sondern hilft. Was beruhigt, erdet und entspannt? Was hilft die aufgestaute Spannung abzubauen? Sport ist gerade bei emotionalem Stress sehr wirksam. Am besten in der Natur. Laufen gehen mit Musik, Radfahren, spazieren gehen. Statt Selbstverletzung also gemeinsam ausprobieren.
Doch am wichtigsten ist es, professionelle Hilfe einzuschalten. Einen Therapeuten suchen. Auch wenn die Lage angespannt ist und kaum freie Plätze zur Verfügung stehen, ist es sinnvoll frühzeitig auf die Suche zu gehen. Im akuten Fall gibt es (Tages-)Kliniken und Seelsorge. Persönlich oder per Telefon. Das gilt gerade auch für die eigenen Gefühle und Sorgen. Denn auch als Angehöriger entsteht schnell Stress und das Gefühl von Überforderung, das die Abwärtsspirale noch befeuern kann. Coaching kann ein wirksames Mittel sein. Wenn du selbst einen Angehörigen hast, der Hilfe braucht und du merkst, dass du beim Unterstützen an deine Grenze kommst, dann such dir selbst Hilfe. Halte nicht aus. Stark sein für den anderen kannst du nur, wenn du selbst Ressourcen hast, auf die du zurückgreifen kannst. Dem anderen die Sauerstoffmaske überziehen, kannst du nur, wenn du dich selbst um dich gekümmert hast. Warte nicht zu lange.